Nach der ersten Schrecksekunde über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Mittwoch, das das Luftsicherheitsgesetz der abgewählten SPD-Grünen-Koalition für verfassungswidrig erklärte, suchen Politiker von SPD und Union nun nach Schleichwegen, um Einsätze der Bundeswehr im Innern zu ermöglichen. Das höchste deutsche Gericht hat in einer eindeutigen Entscheidung verboten, entführte Passagierflugzeuge abzuschießen, da ein solches Gesetz gegen die Menschenwürde und das Grundrecht auf Leben verstoße. Demgegenüber vertrat der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz in einem Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt (Montagausgabe) die Auffassung, militärisches Eingreifen der Bundeswehr bleibe in solchen Fällen erlaubt.
Im Gleichschritt
Wiefelspütz, der mit dem früheren Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und dem Grünen-Rechtspolitiker Hans-Christian Ströbele zu den Urhebern der von Karlsruhe kassierten »Lizenz zum Töten« gehört, räumte ein, daß ihn der Urteilsspruch wie ein »Hammerschlag« getroffen habe. Nun kam er auf die Idee, das Eindringen entführter Passagierflugzeuge in den deutschen Luftraum einem militärischen Angriff gleichzustellen. Damit sei die Zuständigkeit der Bundeswehr gegeben. Wörtlich erklärte Wiefelspütz: »Wenn etwa ein Flugzeug im Ausland entführt und bei uns als Waffe benutzt werden soll, ist das Landesverteidigung. Der UN-Sicherheitsrat hat bei den Anschlägen vom 11. September 2001 ein Recht der USA anerkannt, sich militärisch zu verteidigen. Die NATO stellte den Bündnisfall fest.«
Das Bundesverfassungsgericht hat den Abschuß von Passagiermaschinen im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr zwar ausdrücklich untersagt. Nach Meinung von Wiefelspütz kann man dieses Urteil aber in den Papierkorb werfen, weil in solchen Fällen ohnehin der militärische Verteidigungsfall vorliege.
Die SPD folgt mit diesem dreisten Versuch der Mißachtung des Bundesverfassungsgerichts der Union auf dem Fuß. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte bereits am Freitag in der aktuellen Stunde des Bundestags deutlich gemacht, daß er nicht daran denkt, sich an die Vorgaben aus Karlsruhe zu halten. Seine Argumentation brauchte Wiefelspütz später nur noch abschreiben: Der Weltsicherheitsrat, so Schäuble, habe nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gemäß Artikel 51 der UN-Charta festgestellt, daß es sich um einen Angriff gegen die USA und einen Anschlag auf den Weltfrieden gehandelt habe. Am Tag danach habe die NATO mit Zustimmung der damaligen Bundesregierung ebenfalls beschlossen, »daß hier nach Artikel fünf des NATO-Vertrages ein bewaffneter Angriff gegen ein Land vorliegt«.
Befehle verweigern
Überraschend ist hingegen die Position des Bundeswehrverbandes. Er hat alle Piloten aufgefordert, mögliche Abschußbefehle zu verweigern. Dies gelte auch dann, wenn der Befehl damit begründet werde, daß ein Flugzeug ausschließlich mit Terroristen besetzt sei, sagte der Verbandsvorsitzende Bernhard Gertz der Stuttgarter Zeitung (Montagausgabe). In einer konkreten Bedrohungssituation durch ein von Terroristen gekapertes Flugzeug könne es keine Sicherheit geben, daß wirklich nur Täter und keine Geiseln an Bord seien. Der Verbandschef begründete seine Rechtsauffassung dem Blatt zufolge mit einem Hinweis auf das Soldatengesetz. Demnach dürfen Bundeswehrangehörige Befehle nicht befolgen, die die Menschenwürde verletzen oder in eine Straftat münden. Beides ist laut dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dann der Fall, wenn beim Abschuß einer Terrormaschine auch unschuldige Passagiere getötet werden.
Aus: junge welt vom 21. Februar 2006