Strategische Funktion des Extremismusbegriffs
In der politischen Auseinandersetzung hat die Verwendung des Extremismusbegriffs mindestens drei Funktionen: Er soll (1.) die inhaltlichen Unterschiede zwischen der radikalen Linken und einer extremen Rechten nivellieren und somit die Linke durch die begriffliche Gleichsetzung mit der extremen Rechten diskreditieren; er soll (2.) die politische Mitte unabhängig von den hier vertretenen Inhalten legitimieren und alle Abweichungen von dieser Mitte unter den Verdacht des „Extremismus“ stellen; dadurch definiert der Extremismusbegriff (3.) einen legalen politischen Raum (die Mitte) und stellt alle abweichenden politischen Vorstellungen unter den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit. Diese Definition der legitimen Mitte erfolgt jedoch nicht inhaltlich, etwa entlang den Grundwerten der Verfassung, sondern rein formal, d.h. gemäß dem Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, zu der nach herrschender Auffassung auch das kapitalistische Wirtschaftssystem der Bundesrepublik gehört.
Der Extremismusansatz soll von den in der Mitte der Gesellschaft anzutreffenden fremdenfeindlichen, antidemokratischen oder autoritätsfixierten Einstellungen ablenken und die inhaltliche Nähe mancher Positionen der bürgerlichen Mitte zu neofaschistischem Gedankengut vertuschen. Zugleich geht es um die Verunglimpfung jeder linken Kritik an der bestehenden (kapitalistischen) Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Auf europäischer Ebene wird dies seit einiger Zeit deutlich in den Versuchen meist osteuropäischer Politiker, eine europaweite Verurteilung des Kommunismus durch dessen Gleichsetzung mit dem Faschismus zu erreichen. In Deutschland kommt es dennoch auch von Seiten linker Politikerinnen und Politiker immer wieder zu einer Unterschätzung der strategischen Intention des Extremismusansatzes, etwa wenn Abgeordnete der LINKEN zur Bekämpfung des Neofaschismus im Bündnis mit den bürgerlichen Parteien in allgemeine Klauseln oder gar Grundrechtseinschränkungen einwilligen, die sich undifferenziert gegen „Extremismus“ richten. Leicht kann sich DIE LINKE hier selbst ein Bein stellen, wird sie doch in Verfassungsschutzberichten des Bundes und mehrerer Länder selber als extremistisch diffamiert.
Theoretischer Hintergrund
Die staatliche Thematisierung und Auseinandersetzung mit der extremen Rechten in der Bundesrepublik erfolgt seit 1949 vor dem Hintergrund des Extremismusansatzes, der den Kern sowohl des Selbstverständnisses der Bundesrepublik als auch der Bewertung abweichender politischer Vorstellung rechts und links kennzeichnet. Es handelt sich bei diesem Ansatz um keine begründete, wissenschaftliche Definition oder Analyse verschiedener politischer Ausrichtungen, sondern letztlich um ein politisches Kampfinstrument, mit dessen Hilfe eine Gleichsetzung völlig gegensätzlicher politischer Richtungen vorgenommen wird. So findet sich dieser Ansatz vor allem im Bereich der staatlichen und administrativen Auseinandersetzung mit politisch abweichenden Meinungen (Parlamente, Polizei, Verfassungsschutz, Gerichte).
Theoretisch basiert der Extremismusbegriff auf der sehr viel älteren Totalitarismustheorie, die in ihrer klassischen Ausprägung eine Gleichsetzung der politischen Systeme des Kommunismus und Faschismus vornahm. In der Bundesrepublik gilt bis heute der Antitotalitarismus (und eben nicht der Antifaschismus) als Gründungskonsens seit 1949. Mit Totalitarismus werden reale Herrschaftssysteme beschrieben, wogegen Extremismus auf Bewegungen und Parteien angewandt wird, die in Opposition zum liberalen Verfassungsstaat stehen. Die beiden wohl führenden Vertreter des Extremismusansatzes in der Bundesrepublik, Uwe Backes und Eckhard Jesse, definieren den Begriff folgendermaßen: „Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß jede Form von Staatlichkeit als ‘repressiv’ gilt (Anarchismus).“
Wichtigstes Merkmal ist hier die Ablehnung der Werte und Normen des demokratischen Verfassungsstaates. Weiterhin nennen Backes/Jesse Merkmale des Extremismus, die sie in einer allen extremistischen Kräften gemeinsamen Denkstruktur sehen: „Alle extremistischen Doktrinen erheben auf die eine oder andere Weise den Anspruch auf exklusiven Zugang zur historisch-politischen Wahrheit – gleichgültig ob man sich auf die Gesetze der Natur oder der Vernunft beruft.“ Diese inhaltliche Gleichsetzung wird noch um einen Punkt weitergetrieben: „Ihr strategisches Waffenarsenal ist weitgehend austauschbar: kein Mittel der extremen Linken, das nicht auch bereits von der extremen Rechten angewendet worden wäre – und umgekehrt.“
Somit erscheint rechter und linker Extremismus in der Wahl seines Gegners (liberaler Verfassungsstaat), der Wahl seiner Mittel und in seiner Agitationsstruktur als gleich. Erübrigt hat sich mit dieser Definition jede weitere inhaltliche Dimension. Entscheidend ist nicht das wofür sondern das wogegen, womit die politische Mitte, der liberale Verfassungsstaat, zum einzigen Maßstab wird, jedoch nicht inhaltlich, sondern rein auf die Form bezogen. Nicht die Inhalte, sondern das formale Bekenntnis zum liberalen Verfassungsstaat, sind das Kriterium. Egal welche inhaltliche Veränderung dieser Verfassungsstaat z.B. im Rahmen der aktuellen Sicherheitsdebatte nehmen wird, an seiner Definition und am Selbstverständnis als liberaler Verfassungsstaat wird sich nichts ändern.
Handlungsoptionen für DIE LINKE
Der Extremismusansatz samt seiner Terminologie kann kein positiver Anknüpfungspunkt für DIE LINKE sein. Der damit transportierte Inhalt immunisiert den liberalen Verfassungsstaat vor jeglicher Kritik, verschiebt das Problem der extremen Rechten auf den Randbereich des politischen Spektrums und leugnet die Wechselwirkung zwischen Diskursen der politischen Mitte und der Stärkung etwa der extremen Rechten („Extremismus der Mitte“). Mit der unzulässigen Gleichsetzung von rechts und links durch den Terminus „Extremismus“ werden die fundamentalen Unterschiede zwischen rechts (= Ungleichheit, Hierarchie, Nationalismus, Rassismus) und links (= Gleichheit, Solidarität, Internationalismus, Klassenanalyse) nivelliert. Das Vermächtnis der Aufklärung als Prozess, der immer wieder diese linken Forderungen artikuliert, steht somit dem rechten (Geschichts-)Verständnis, dass als (utopisches) Ziel eine starre Hierarchie, sowie die Ausgrenzung der darin nicht integrierbaren hat, diametral entgegen. Da Sprache jedoch das Verständnis der Welt und wie diese wahrgenommen wird prägt und der Extremismusansatz auf einem in Westdeutschland fest verwurzeltem Antikommunismus basiert (der durch die vollständige Diskreditierung der DDR wieder belebt wurde), trägt der unhinterfragte Gebrauch dieser Terminologie zur Verfestigung seiner Inhalte bei.
Wie gezeigt abstrahiert der Extremismusansatz von jeder inhaltlichen Bestimmung seines Gegenstandes. Für uns ist es deshalb entscheidend, immer wieder die Inhalte der extremen Rechten als Begründung für unseren Kampf gegen rechts hervorzuheben: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und NS-Verherrlichung – dass sind die Gründe für Maßnahmen gegen die extreme Rechte, nicht ihre formale Nähe oder Ferne zum liberalen Verfassungsstaat.
Mit dem von der LINKEN vertretenen Verständnis der bürgerlichen Freiheitsrechte und der sozialen Grundrechte, wie sie sich aus der Verfassung ergeben, sollten wir offensiv den Vorwurf des Extremismus zurückweisen und ihn vielmehr gegen die wenden, die diese Rechte täglich mit ihrer Politik verletzen. Entscheidend ist dabei der Hinweis, dass das Grundgesetz keine Wirtschaftsverfassung vorschreibt, der Kapitalismus somit nicht zum Kernbestand der Verfassung gehört und demnach Antikapitalismus nicht unter Extremismusverdacht gestellt werden kann.