Weitgehend unerforscht ist bis heute die Nazivergangenheit von Bundestagsabgeordneten. Während eine Reihe von Institutionen, wie etwa das Bundeskriminalamt oder das Auswärtige Amt, Anstrengungen unternommen haben, die Rolle ehemaliger Nazis in der Gründungsphase ihrer Ämter zu beleuchten, herrscht beim Parlament Fehlanzeige. In einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, die von der Linksfraktion angefordert worden war, wird der Forschungsstand als extrem dürftig bezeichnet. Zwar ist bekannt, daß prominente CDU-Politiker wie der ehemalige Bundespräsident Karl Carstens und der ehemalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zuvor der NSDAP angehörten, aber es sei »keinesfalls gewährleistet«, daß die Mitgliedschaften früherer Bundestagsabgeordneter in faschistischen Organisationen oder hohen Funktionen des Naziregimes »auch nur annähernd vollständig dokumentiert sind.« Die bisher vorliegenden Informationen basierten auf freiwilligen Selbstauskünften der Parlamentarier, die sie etwa im Handbuch des Bundestages erteilt haben, oder einer unsystematischen Auswertung von Biographien. Von diesen gingen einige »relativ ausführlich« auf den Lebenslauf der Abgeordneten zwischen 1933 und 1945 ein, andere jedoch enthielten nur »äußerst spärliche oder wenig aussagekräftige Kurzhinweise« darüber.
Die Ausarbeitung, die aus einer Übersicht über den Forschungsstand besteht, bilanziert, daß mindestens 61 Bundestagsabgeordnete frühere Mitglieder der NSDAP oder anderer faschistischer Organisationen waren. Am stärksten war ihre Vertretung in der dritten Wahlperiode von 1957 bis 1961 mit 20 Abgeordneten. 13 Abgeordnete waren bereits vor 1933 in der Nazipartei. Neun Parlamentarier waren frühere SS-Angehörige, darunter Otto Freiherr von Fircks, der im besetzten ód an der von ihm so genannten »Heraussetzung der Juden« beteiligt war.
Die meisten Altnazis waren nach dem Krieg in den Reihen der Fraktionen von CDU/CSU (33) und FDP (17) anzutreffen, aber auch die SPD-Fraktion hatte zwölf frühere Parteigänger der Nazis. Die »Vertriebenen«-Partei Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, die von 1953 bis 1957 im Bundestag war, hatte zehn NSDAP-/SS-Mitglieder zu verzeichnen. Darunter war Theodor Oberländer, der bereits 1923 am »Hitlerputsch« in München teilgenommen hatte und nach 1957 seine Karriere bei der CDU fortsetzte.
Die Zahl von 61 Abgeordneten mit »NS-Belastung« erscheint relativ niedrig. Die Übersicht des Bundestages weist ausdrücklich darauf hin, daß sie »keinerlei Vollständigkeit« beanspruchen könne. Das hatte bereits eine Studie gezeigt, die voriges Jahr von der niedersächsischen Landtagsfraktion der Linkspartei durchgeführt worden war: Während das Biographische Handbuch des Landtages keine einzige NSDAP-Mitgliedschaft aufführte, hat die Untersuchung der NSDAP-Mitgliederkartei im Berliner Document Center 71 Treffer ergeben – und das nur im Rahmen einer Stichprobe.