Es dürfte das erste EU-Dokument gewesen sein, das international für solches Aufsehen und derartige Kritik gesorgt hat: die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 »über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger« – kurz: Rückführungsrichtlinie. Evo Morales bezeichnete sie damals als »Richtlinie der Schande«. Der Präsident Boliviens, dessen Land auf die Geldüberweisungen bolivianischer Arbeitsmigranten im Ausland angewiesen ist, erinnerte an die jahrhundertelange europäische Einwanderung nach Amerika aus ökonomischen und politischen Gründen. Sein venezolanischer Kollege Hugo Chávez drohte mit einem Öllieferboykott gegen die EU, sollte das Papier verabschiedet werden.
Es zielt darauf, die Verfahren zur Abschiebung von Migranten in EU-Staaten zu vereinheitlichen (sie ist aber auch für Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein bindend). Die Bundesregierung setzte nach deutschem Vorbild eine Höchstgrenze von 18 Monaten für die Dauer der Abschiebehaft durch. Nur Bulgarien und Ungarn haben mit 24 Monaten längere Höchstfristen für Abschiebehaft. Einige EU-Staaten haben dagegen gar keine gesetzlich verankerten Fristen, und die große Mehrheit bleibt deutlich unter 18 Monaten.
Inhaftierungen
An anderen Stellen mußte die Bundesregierung in den Verhandlungen mehr Zugeständnisse machen als ihr lieb ist – dafür setzt sie die Richtlinie dort, wo sie Verbesserungen für die Betroffenen bringen könnte, höchstens halbherzig um. Mit großer Verspätung, schon vor Weihnachten 2010 hätte die Regelung in deutsches Recht umgesetzt sein müssen, legte das Kabinett Anfang April einen Gesetzentwurf vor. Darin wird z. B. die EU-Vorgabe, Abschiebehäftlingen eine kostenlose Rechtsberatung und -vertretung zu garantieren, schlicht ignoriert. Damit wären diese schlechter gestellt als »normale« und Untersuchungshäftlinge. Eine Rechtsberatung wäre aber notwendig, weil immer wieder Menschen, die ein Asylverfahren betreiben wollen und einen Aufenthaltstitel erhalten müßten, unmittelbar nach ihrer Einreise in Abschiebehaft landen.
Von Menschenrechtlern wird die ungenügende Wahrung des Kindeswohls im Gesetzentwurf und in der Richtlinie kritisiert. Schon die EU-Regelung schließt die Inhaftierung Minderjähriger oder ihrer Familienangehörigen nicht gänzlich aus, fordert aber im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention, bei einer Entscheidung über Abschiebehaft das Kindeswohl vorrangig zu beachten.
Aufenthaltserlaubnis
Diese Formulierung aus der Konvention hat die Bundesregierung nach Kritik aus Verbänden zwar in den Gesetzentwurf übernommen, allerdings ohne weitere konkrete Vorgaben an die Behörden zu machen. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und andere Menschenrechtsgruppen verlangen deshalb, die Inhaftierung Minderjähriger ebenso wie die von alten und kranken Menschen ganz zu verbieten.
Mit der sogenannten Sanktionsrichtlinie vom 18. Juni 2009 »über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen« steht derzeit eine weitere EU-Vorgabe vor der Umsetzung in deutsches Recht. Mit ihr sollen illegalisierte Beschäftigte ein begrenztes Aufenthaltsrecht erhalten, um vorenthaltenen Lohn einklagen und um als Zeugen in Strafverfahren gegen ihre Chefs aussagen zu können. Doch es liegt im Behördenermessen, ob eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Der »Bundesweite Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozeß« (KOK) fordert, die Vergabe eines Aufenthaltstitels aus humanitären Erwägungen verbindlich vorzuschreiben. Denn Klagen auf Lohn können vom Ausland aus nicht effektiv verfolgt werden. Das begrenzte Aufenthaltsrecht ist außerdem an die Aussagebereitschaft der Betroffenen gekoppelt. Das kommt ihrer strafrechtlichen Instrumentalisierung gleich. Da es sich bei ihnen häufig um Opfer von Menschenhandel handelt, die psychotherapeutische Hilfe brauchen, müßten sie Zugang zu allen Sozial- und Gesundheitsleistungen erhalten. Vorgesehen ist aber bislang lediglich, daß sie bei akuter Gesundheitsgefährdung gesetzlich abgesichert behandelt werden.
Das Fazit: Die Bundesregierung setzt beide EU-Richtlinien restriktiv um. Humanitäre Aspekte werden kaum berücksichtigt, vor allem wird unbeirrbar an einer repressiven Politik gegenüber illegalisierten Migranten festgehalten. Schon die EU-Vorgaben definieren nur eine Untergrenze dessen, was aus menschenrechtlicher Sicht geboten wäre. Gemessen am tatsächlichen Maßstab der Menschenrechte stehen aber die Abschaffung der Abschiebehaft und die Möglichkeit für illegalisierte Arbeitsmigranten, ohne Gefährdung ihres Aufenthalts ihren Lohn gerichtlich einzuklagen, oben auf der Agenda.