„Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.“ – diese Zeilen von großer Aktualität finden sich im 1891 beschlossenen Erfurter Programm der damals noch marxistischen Sozialdemokratie.
120 Jahre später stellt der Herausgebers der FAZ, Frank Schirrmacher, in einem mittlerweile vielzitierten Essay fest: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ Das politische System diene offenbar nur den Reichen. „Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik“, so Schirrmacher.
Im Editorial der Wirtschaftswoche weist deren Chefredakteur Roland Tichy in dieser Woche darauf hin, dass Schirrmacher bestimmt nicht die Partei DIE LINKE oder die linke Sozialdemokratie gemeint habe. Deren Politik zugunsten gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatzbesitzer sei schließlich schuld an der Krise. Voll des Lobes ist Tichy dagegen für Altkanzler Gerhard Schröder und dessen Agenda 2010. Wo der kluge Konservative Schirrmacher die Zeichen der Zeit erkannt hat, setzt der Neoliberale Tichy auf ein „Augen zu und durch“. Gemein ist beiden ihre Ratlosigkeit angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus. Doch vom Klassenfeind können wir uns keine Rettung erwarten. „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“, heißt es in der Internationale. Einen Ausweg aus der Krise zu zeigen, ist die Aufgabe eines linken Parteiprogramms. Ein solches steht in Erfurt zur Debatte.
Zuerst einmal muss uns klar sein: dieser Programmentwurf ist ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der Linkspartei. Dem zweiten, überarbeiteten Entwurf ist dies noch mehr anzumerken. Dass unter diesen Umständen kein geschlossen marxistisches und schon gar kein revolutionär-kommunistisches Programm entstehen konnte, dürfte uns allen klar sein. Es geht also vielmehr darum, ein Programm zu beschließen, dass zwar in unseren Augen nicht weitgenug geht, aber andererseits nach links offen bleibt. Die Voraussetzung dafür ist ein deutlich antikapitalistisches Profil und die Zielstellung des Sozialismus. Beides bietet der Programmentwurf.
Im Vergleich zu früheren PDS-Programmen ist dieser Entwurf ein großer Fortschritt. Er beginn in der Tradition marxistischer Programme mit einer Analyse des Ist-Zustandes, also des Kapitalismus, aus dem dann die Forderungen entwickelt werden. Dies ist ein Bruch mit der idealistischen Herangehensweise des letzten PDS-Programms, dass analog zur SPD nach Godesberg seine Programmatik nicht mehr aus der Realität sondern in philosophisch-idealistischer Weise aus so genannten Freiheitswerten ableitete und damit mehr bei Kant als bei Marx zu verorten war.
Der Entwurf ist auch ein Fortschritt gegenüber den Programmatischen Eckpunkten der Vereinigung von WASG und PDS. Nicht mehr lediglich der Neoliberalismus – also die neoliberale Ausprägung des Kapitalismus – sondern das kapitalistische System als Ganzes wird als Ursache für Krisen und sozialen Problemen benannt.
Außerdem wird bereits in der Präambel der „demokratische Sozialismus“ deutlich als Ziel der Partei DIE LINKE genannt. Gemeint ist damit „ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem“, in dem die „Lebensbedürfnisse und Interessen der Mehrheit der Menschen“ im Mittelpunkt stehen. „Demokratischer Sozialismus“ als Ziel ist allerdings noch kein Alleinstellungsmerkmal der Linkspartei. Auch die SPD tritt weiterhin zumindest auf dem Papier dafür ein. Wichtig ist daher der ebenfalls in der Präambel des Programmentwurfs propagierte „Systemwechsel“, „weil der Kapitalismus, der auf Ungleichheit, Ausbeutung, Expansion und Konkurrenz beruht, mit diesen Zielen unvereinbar ist.“ Der von der Linkspartei angestrebte „demokratische Sozialismus“ soll damit also nicht – wie von der SPD propagiert – innerhalb des Kapitalismus, sondern jenseits davon errichtet werden. Das suggeriert der „Systemwechsel“ jedenfalls.
Wie oder was genau der Demokratische Sozialismus allerdings sein soll, dazu bleibt der Programmentwurf äußerst vage. Konkret wird es nur dort, wo Reformforderungen propagiert werden, die sich im Rahmen des kapitalistischen Systems verwirklichen ließen.
Der Programentwurf anerkennt – anders als noch die Eckpunkte – dass wir in einer Klassengesellschaft leben und ein Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital besteht. Eine grundsätzliche Orientierung auf die Lohnabhängigen ist zwar enthalten. Doch was völlig fehlt, ist die Benennung des Klassenkampfes als Motor einer möglichen Überwindung des Kapitalismus.
Stattdessen findet sich das alte sozialdemokratische Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ durch „Runde Tische“ und „Wirtschafts- und Sozialräte“ und eine Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung. Solche Gremien sollen zwar beratend tätig werden und auch Gesetzesinitiative haben. Aber die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel wird damit nur eingeschränkt, nicht abgeschafft. De facto handelt es sich hier um das von der SPD und den DGB-Spitzen seit den 50er Jahren propagierte Konzept der Klassenkollaboration. Auch Konzepte wie Belegschaftseigentum und Mitarbeiteraktien richten sich nicht gegen das kapitalistischen Profitprinzip, sondern nehmen im Gegenteil die Belegschaften noch mehr in Geiselhaft für die inneren Zwänge des Kapitalismus. Zudem verhindern sie einen gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen, da diese so in einen Konkurrenzkampf der Betriebskollektive gegeneinander getrieben werden.
Um die Anarchie in der Produktion, die dem Kapitalismus innewohnt, zu überwinden, ist eine gesamtwirtschaftliche demokratische Wirtschaftsplanung notwendig. Inwieweit hier auch Marktelemente zum Tragen kommen müssen, ist zu diskutieren. Aber ein Marktsozialismus aus mit- und gegeneinander wetteifernden Betriebskollektiven ohne eine Rahmenplanung wird ebenso wenig funktionieren, wie ein bürokratisierter und überzentralisierter Staatssozialismus nach DDR-Vorbild. Dies können wir vom ebenfalls gescheiterten jugoslawischen marktsozialistischen Modell lernen.
Die Eigentumsfrage als zentrale Frage antikapitalistischer Politik hat zwar in diesen Programmentwurf Eingang gefunden. Doch offen bleibt, auf welche gesellschaftlichen Bereich sich denn die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erstrecken soll. Für die Daseinsvorsorge ist dies noch relativ deutlich gesagt. Aber welche weiteren Betriebe in staatlicher Hand sein sollen, bleibt unklar. Im angestrebten demokratischen Sozialismus haben demnach „verschiedene Eigentumsformen Platz: staatliche und kommunale, gesellschaftliche und private, genossenschaftliche und andere Formen des Eigentums.“ Das ist natürlich erst Mal richtig. Aber diese verschiedenen Eigentumsformen finden wir ja schon heute im real existierenden Kapitalismus nebeneinander bestehend. Entscheidend für die Frage der Systemüberwindung ist doch wohl die Frage, welche Eigentumsformen die Wirtschaft letztlich dominieren sollen. Da müsste der Programmentwurf deutlicher werden.
Weiter heißt es, „strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft wollen wir in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen überführen“. Was mit solchen „demokratischen gesellschaftlichen Eigentumsformen“ gemeint ist, bleibt ebenso offen wie die Frage, welche Betriebe denn nun strukturbestimmend sind. Eine Abgrenzung wird lediglich zum „allumfassenden Staatseigentum“ aufgrund der Erfahrungen der DDR getroffen.
Hier wäre Klarheit im Programm notwendig: Unsere Forderung muss die Verstaatlichung aller Banken, Versicherungen und der großen Konzerne sein – unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch gewählte Vertreter der Lohnabhängigen.
Dieser auf dem Erfurter Parteitag zur Abstimmung stehende Programmentwurf krankt in seiner Methodik an einem Mangel, der schon das 120 Jahre zuvor ebenfalls in Erfurt beschlossene Programm der damaligen Sozialdemokratie auszeichnete. Gemeint ist die Trennung zwischen einen Minimalprogramm von Sozialreformen im Rahmen des Kapitalismus auf der einen Seite und dem propagierten Endziel Sozialismus auf der anderen Seite, ohne dass eine konkrete Kampfstrategie zwischen Minimal- und Maximalprogramm formuliert wird.
In der marxistischen Tradition gibt es hier die Methodik der Übergangsforderungen – also programmatische Forderungen, die im hier und jetzt am Bewusstsein der Lohnabhängigen ansetzen, aber in ihrer Konsequenz über die Grenzen des kapitalistischen Systems hinausführen. Bereits im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels findet sich so ein Katalog von Aktions- und Übergangsforderungen wie etwa die Abschaffung aller indirekten Steuern und die Einführung einer starken Progressivsteuer oder die Zusammenfassung der Banken in einer einzigen Staatsbank. Die frühe kommunistische Internationale trat ebenfalls für Übergangsforderungen als Strategie der Machteroberung ein.
Solche Übergangsforderungen können sein: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, bis die Arbeit auf alle Schultern verteilt ist. Öffnung der Geschäftsbücher für Betriebsrats- und Gewerkschaftsvertreter bei Firmen, die entlassen oder Löhne senken. Und daraus abgeleitet Arbeiterkontrolle der Produktion. Voraussetzung für Übergangsforderungen ist, dass tatsächlich außerparlamentarisch dafür gekämpft wird. Es müssen also Forderungen sein, die mobilisierend wirken. Doch daran krankt der Programmentwurf der Linkspartei wieder. Die vielen richtigen darin enthaltenen Reformforderungen sind weder in ihrer Konsequenz systemsprengend, noch werden sie als Mobilisierungsforderungen verstanden.
Von Anfang an war dieser Programmentwurf scharfer Kritik durch die Reformer, durch das Forum demokratischer Sozialismus ausgesetzt. Schwarz-weiß-Malerei und einseitig negative Charakterisierung des Kapitalismus lautete deren Hauptkritik an diesem Text. Natürlich zielte diese Kritik auf eine Verwässerung des antikapitalistischen Profils. Denn wer mit den grünen Ökokapitalisten und der Agenda2010-SPD ein Reformbündnis auf parlamentarischer Ebene anstrebt, hat sich von der Systemüberwindung verabschiedet. Unter dem Feuer der Reformer wurden ja schon die roten Haltelinien verwässert – Sevim wird ja noch ausführlich darauf eingehen. Zumindest den antikapitalistischen Grundtenor konnten die Reformer nicht gänzlich kippen. Stattdessen wurde aus dem Reformlager ja sogar ein eigener Programmentwurf vorgelegt. Auch wenn der vorliegende Vorstandsentwurf den Reformern in seiner Halbheit meiner Einschätzung nach genug Hintertürchen lässt, um weiterhin ihre Politik zu betreiben, werden diese ihre Angriffe auf dieses Programm nicht einstellen.
Wie soll die AKL nun mit diesem Programmentwurf – zumindest in den von mir behandelten Punkten Antikapitalismus und demokratischer Sozialismus – umgehen? Ich denke, wir müssen hier realistisch sein. Zurecht hat die AKL keinen eigenen alternativen Programmentwurf vorgelegt. Das wäre angesichts der Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei kontraproduktiv gewesen. Vielmehr gilt es, den antikapitalistischen Grundtenor und den sozialistischen Anspruch dieses Programmentwurfs gemeinsam mit anderen linken Strömungen in der Partei gegen die Angriffe von rechts zu verteidigen. Dass wir in einzelnen Punkten weiterdenken, sollten wir dabei nicht verschweigen. Wir brauchen ein Programm mit roten Haltelinien für eine Regierungsbeteiligung nach rechts. Was wir verhindern müssen, ist ein Programm, dass solche roten Linien nach links setzt. Hier müssen wir eine Offenheit für radikale antikapitalistische Politik verteidigen und dafür, dass Marxisten und Kommunisten ihren Platz in der Linkspartei haben können.
Wenn wir dieses Programm in Erfurt in den Punkten Antikapitalismus und Sozialismus soweit verteidigen können, dann haben wir die Möglichkeit, bei der zukünftigen konkreten Ausgestaltung der hier nur grob skizzierten Programmpunkte auch weitergehende Vorschläge einzubringen und durchzusetzen. Dann könnten wir zum Beispiel für die Erarbeitung eines kurzen und knappen Aktionsprogramms mit Übergangsforderungen eintreten, das uns auch im praktischen außerparlamentarischen Kampf leiten kann. Aber dafür müssen wir erst einmal bewahren, was wir in diesem Programmentwurf schon an positiven Formulierungen eingebracht haben.