Herr Zarakolu sollte wenige Tage später in Potsdam über die türkische Diskussion zum Armeniergenozid referieren. Der Verdacht liegt nahe, dass dies mit seiner Verhaftung unterbunden werden sollte. Mitte November soll Herr Zarakolu auf einer Veranstaltung der Schriftstellervereinigung PEN in Köln zum Thema „Meinungsfreiheit in der Türkei?“ sprechen. Das Fragezeichen können sich die Veranstalter ganz offensichtlich sparen.
Meinungsfreiheit, Freiheit der Presse, Freiheit der Organisation … all diese grundlegenden demokratischen Freiheiten, in deren Namen die die AKP bei ihrer Wahl an die Regierung im Jahr 2002 vollmundig eingetreten ist, werden heute in der Türkei mehr denn je mit Füßen getreten. 8000 Festnahmen und 4000 Verhaftungen prokurdischer Politiker und Aktivisten seit dem Frühjahr 2009, darunter 15 Bürgermeister und zahlreiche Kommunalabgeordnete, sprechen eine eindeutige Sprache. Heute sind in der Türkei mehr Journalisten und Schriftsteller inhaftiert als in jedem anderen Land der Erde. Abweichende Meinungen, Kritik an der AKP-Regierung und der hinter ihr stehenden Gülen-Cemaat wird verfolgt, Kritiker unter absurden konstruierten Vorwürfen eingesperrt. Unter Ihrer Regierung wurde die Türkei erneut – wie unter der 12.September-Junta – in ein Land der Kerker verwandelt.
Sie haben mehrfach erklärt, der Ort für eine Lösung der kurdischen Frage sei das Parlament. Doch mit den Verhaftungen wird eine solche Lösung weiterhin verhindert. Sechs von 36 gewählten prokurdischen Parlamentariern des Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit werden weiterhin in Haft gehalten, einem von ihnen – dem von 78.000 Menschen in Diyarbakir gewählten Hatip Dicle – wurde gar das Mandat geraubt. Nun wurde auch die bekannte Verfassungsrechtlerin und Dozentin der Marmara-Universität Büsra Ersanli verhaftet. Wie Ihnen bekannt sein müsste, ist Professorin Ersanli Vertreterin der BDP im Verfassungsausschuss des Parlaments. Ganz offensichtlich soll hier eine demokratische Partizipation der BDP an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung gehindert werden.
Nun sind also auch türkischstämmige Intellektuelle wie Ragip Zarakolu und Büsra Ersanli zu Feinden des AKP-Staates erklärt worden, weil sie für die Geschwisterlichkeit des türkischen und des kurdischen Volkes eintreten. Sie haben zuletzt am Montag bei ihrer Rede in Rize den im Rahmen der KCK-Operationen Verhafteten vorgeworfen, einen „parallelen Staat“ in der Türkei zu schaffen. Sie täuschen sich: Politische Opposition und die Wahl von Bürgermeistern und Abgeordneten, die nicht der AKP angehören, bedeutet nicht Schaffung eines Parallelstaates, sondern schlicht die Ausübung demokratischer Rechte. Den parallelen Staat schaffen in Wirklichkeit Ihre AKP und die dahinter stehende Gülen-Cemaat. Sie haben offensichtlich nichts aus dem Schicksal der alten Militärs und Kemalisten gelernt, die mit einem ebenso totalitären Anspruch eines einheitlichen unteilbaren türkischen Staates gescheitert sind. Auch Ihre totalitären Machtträume werden an der Realität der Türkei scheitern, die eben nicht nur aus dem unteilbaren Türkentum besteht, sondern aus einer Vielfalt von Ethien, Sprachen, Religionen, Kulturen und politischen Auffassungen. Sie sollten darin keine Gefahr, sondern einen Reichtum sehen.
Stoppen Sie die Massenverhaftungen von prokurdischen Politikerinnen und Politikern und zivilgesellschaftlichen Akteuren! Geben Sie dem gesellschaftlichen Frieden eine Chance!
mit freundlichen Grüßen,
Ulla Jelpke, MdB DIE LINKE