Das Gericht ging weiter als von vielen erwartet. Erwartet wurde, daß das Gericht analog zu seinem Hartz-IV-Urteil vor zweieinhalb Jahren die freie Schätzung des errechneten Geldbedarfs für Asylbewerber nicht länger dulden wird. Sie mußten bisher mit weniger als zwei Drittel des Hartz-IV-Satzes auskommen. Aber die Juristen fordern mehr als nur das transparente und nachvollziehbare Vorrechnen des Mindestbedarfs. Sie geben sich auch nicht damit zufrieden, die Bundesregierung zu einer »unverzüglichen« Nachbesserung aufzufordern. Sie ahnen wohl schon, daß diese sich damit endlos Zeit lassen und erst einmal die Bundestagswahl im kommenden Jahr abwarten würde.
Weil aber die Gewährleistung der Menschenwürde keinen Aufschub fordert, setzte das Verfassungsgericht selbst eine Übergangsregelung fest, die seit Mittwoch gilt und konkrete Zahlen nennt, die knapp unterhalb des Hartz-IV-Niveaus angesiedelt sind. Bei diesen Beträgen handelt es sich um die unterste Grenze. Tiefer kann die Regierung nun nicht mehr gehen. Es wird sich allerdings noch zeigen, daß sie alle Rechenkünste aufbieten wird, um den »Bedarf« von Asylbewerbern keinen Cent höher anzusiedeln als die vom Gericht festgelegten 336 Euro.
Das Asylbewerberleistungsgesetz ist in seinem Kern rassistisch. Es dient erklärtermaßen dazu, Menschen in Not vor der Flucht nach Deutschland abzuschrecken. Daß die Bundesregierungen – und zwar alle seit 1993, inklusive der »rot-grünen« – es in Kauf nahmen, für diesen Zweck die Menschenwürde jener zu beschneiden, die es doch hierher geschafft haben, läßt tief blicken.
In die Freude über das Karlsruher Urteil, das mit einem fast 20 Jahre lang herrschenden Unrecht Schluß macht und die weitgehende – aber längst nicht vollständige – Gleichstellung von Asylbewerbern mit »normalen« Hartz-IV-Berechtigten fordert, mischt sich freilich auch die Frage: Wie menschenwürdig ist Hartz IV? Daß diese »Mindestsicherung« tatsächlich nicht mehr erlaubt als das bloße Überleben, daß man damit noch lange nicht in das gesellschaftliche, kulturelle und poltische Leben integriert ist, wissen die davon Betroffenen am besten. Millionen von Menschen werden hierzulande per Gesetz arm gehalten. Flüchtlinge haben jetzt wenigstens ein Recht darauf, gleich arm zu sein. Im Deutschland von heute ist das schon ein Fortschritt.
Nicht berührt von dem Urteil werden aber zahlreiche weitere Benachteiligungen wie die Einquartierung in Sammellagern, die Residenzpflicht, das Sachleistungsprinzip, die eingeschränkten Möglichkeiten zu arbeiten und der begrenzte Zugang zur Krankenversorgung.
erschien: junge Welt 19.Juli 2012