Rede im Bundestag: Schikanen gegen Flüchtlinge beenden, Asylbewerberleistungsgesetz und Residenzpflicht abschaffen!

Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Flüchtling kommt nach Deutschland ohne Not. Kein Flüchtling kommt aus Spaß hierher.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Flüchtlingsleben in Deutschland bedeutet Sammellager, die weit weg vom gesellschaftlichen Leben eingerichtet werden, keine Individualität, weil die Räume in der Regel überbelegt sind, keine Bildung, keine Arbeit und ein menschenunwürdiges Dasein mit Gutscheinen, zum Teil mit 1-Euro-Jobs oder ähnlichen Dingen. Ich meine, dass diese Schikane und diese Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen in Deutschland endlich aufhören müssen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Hinsichtlich der Residenzpflicht gibt es eine Länderinitiative. Es gibt einige Bundesländer wie Brandenburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hessen, die endlich dazu übergegangen sind, die Residenzpflicht wenigstens in den Ländern aufzuheben.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber was heißt denn das? Wenn für Menschen in einem Land die Residenzpflicht besteht, müssen sie zur Behörde gehen und fragen, ob sie einen Verwandten in einem benachbarten Bundesland besuchen dürfen. Sie haben einen unglaublichen Aufwand an Bürokratie usw. Selbst die Referatsleiter der Ausländerbehörden, die in der letzten Woche den Innenausschuss besucht haben, haben gesagt: Die Residenzpflicht führt vor allen Dingen zu Verwaltungsaufwand, zu Bürokratie, zur Beantwortung von Klagen usw. Sie sind der Meinung, sie gehört abgeschafft. Das sollte sich die Regierung einmal hinter die Ohren schreiben.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Man kann als Fazit sagen: Fachlich ist die Residenzpflicht überflüssig, politisch ist sie eine entwürdigende, diskriminierende Schikane der Schutzsuchenden. Sie gehört im Namen der Menschenwürde ersatzlos abgeschafft.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Auch 20 Jahre nach der faktischen Abschaffung des Asylrechts gibt es in der Asylpolitik leider weitere Schikanen. Wir haben schon vom Asylbewerberleistungsgesetz gehört.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Sommer bestätigt, dass dieses Gesetz die Menschenwürde verletzt, weil es zu geringe Leistungen vorsieht. Das war für uns schon lange klar, aber die Regierung tat nichts. Frau Hiller-Ohm hat es eben schon angesprochen: Es gab eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Eckpunkte für einen Gesetzentwurf vorlegen sollte. Auf Ihre Taten warten wir seit drei Jahren. Gestern ist uns das letzte Ergebnis mitgeteilt worden. Es lautet: Ein abschließendes Eckpunktepapier ist wieder nicht beschlossen worden.
(Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Das ist unmöglich!)
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich bin der Meinung: Das, was Sie sich hier leisten, ist eine unglaubliche Ignoranz gegenüber den Asylbewerbern und durch nichts mehr zu überbieten.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Bundesinnenminister hat sogar angekündigt, gegen das Urteil des Verfassungsgerichts zu verstoßen. Das Verfassungsgericht hat gesagt:
Auch migrationspolitische Erwägungen … können … kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.
Herr Friedrich fordert dagegen, Asylbewerbern aus vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten das Taschengeld komplett zu streichen.
(Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Pfui!)
Genau. Dieses Geld brauchen sie aber, um ihr soziokulturelles Existenzminimum zu decken.
Aus diesem perfiden Grund wollen Sie hier wieder erneut Abschreckungspolitik betreiben. Dabei nehmen Sie sogar in Kauf und das mit Ansage , Verfassungsbruch zu begehen. Ich kann Sie hier nur auffordern, von diesen populistischen Plänen endlich Abstand zu nehmen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Und das vom Verfassungsminister! Das ist eine Schande!)
Eine weitere Schikane ist zum Beispiel das Arbeitsverbot. Die EU sagt immerhin: Asylbewerber sollen nach einem halben Jahr Aufenthalt arbeiten gehen dürfen. Auch das macht Deutschland nicht mit. Durch die Regelung eines nachrangigen Zugangs zum Arbeitsmarkt und die Residenzpflicht wird diesen Menschen praktisch keine Chance gegeben, eine Arbeit zu finden. Sie bleiben von Sozialleistungen abhängig, und das wird ihnen dann wieder vorgehalten, wenn sie ein Bleiberecht beantragen. So kann es meiner Meinung nach nicht gehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Gerade bei den sogenannten Geduldeten führen die Rechtslage und die Praxis immer wieder zu regelrechten Familientragödien. Familien, die seit Jahren in Deutschland leben und sich trotz aller Widrigkeiten ein Zuhause geschaffen haben, müssen in ständiger Angst leben, mitten in der Nacht von einem Polizeiaufgebot aus den Betten gerissen und 30 Minuten später, nachdem sie ihre Sachen gepackt haben, zum Flughafen gebracht zu werden. Besonders Kinder werden durch diese Art und Weise der Abschiebepraxis traumatisiert.
Ich will hier ganz deutlich sagen: Das findet nicht nur in CDU- und CSU-regierten Ländern und unter Beteiligung der FDP, sondern leider auch in SPD-regierten Ländern statt. Das ist wirklich ein Skandal!
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen fordert die Linke ein humanitäres Bleiberecht und kein bürokratisches Bleiberecht, wie wir es bislang haben.
Das Verfassungsgericht hat verboten, dass die Menschenwürde zum Zweck der Flüchtlingsabschreckung unterlaufen wird. Das Regime der Schikanen und der systematischen Ausgrenzung gegenüber Flüchtlingen muss jetzt ein für alle Mal beendet werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, kommen wir noch einmal zu den Fakten; denn die Presse und die Bundesregierung sprechen in der Öffentlichkeit gerne sehr unsachlich über die Zahlen. Zweifellos gibt es in diesem Jahr mehr Flüchtlinge: Im Jahr 2003 sind knapp 20 000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, 2010 waren es 41 000, und 2011 waren es 45 000 Flüchtlinge. Die Zahlen steigen.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Dieses Jahr werden es 70 000 sein!)
Aber erstens steigen sie nicht dramatisch, Herr Grindel, und zweitens steigen die Zahlen bei den Asylanträgen insgesamt. Das hat auch etwas mit Ihrer Politik zu tun.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieser leichte Anstieg ist zum Großteil hausgemacht, nicht weil Flüchtlinge das Asylrecht missbrauchen, sondern weil der Westen immer mehr Fluchtgründe schafft. Die Flüchtlinge kommen zum Beispiel aus dem Balkan, aus Afghanistan, aus dem Irak. Diese Herkunftsländer der Flüchtlinge waren vom sogenannten Krieg gegen den Terror am stärksten betroffen. Ich erinnere an das Gespräch mit Flüchtlingen vorige Woche, in dem ein Flüchtling gesagt hat: Ich bin ein Produkt eurer Politik, auf unser Land fallen NATO-Bomben. – Das gilt übrigens für viele Flüchtlinge.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Deswegen kommen sie ausgerechnet nach Deutschland?)
Von dort, wo Kriege geführt werden, kommen auch Flüchtlinge. Kriege sind Fluchtursachen, die Sie mit schaffen, Herr Grindel.
(Beifall bei der LINKEN)
Die reichen Staaten beuten die sogenannte Dritte Welt aus, halten sie in Armut und Abhängigkeit, und natürlich kommen von dort Flüchtlinge. Die ODA-Quote, der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen – wir haben es letzte Woche hier im Bundestag diskutiert -, wird nicht, wie vereinbart, bald auf 0,7 Prozent erhöht, sondern die Mittel sind wieder einmal gesenkt worden, und damit liegt die Quote unter 0,4 Prozent. Ihre Entwicklungspolitik ist einfach ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN)
Also, wundern Sie sich nicht, wenn Flüchtlinge kommen. Sie, meine Damen und Herren, tragen dazu bei, Fluchtursachen zu schaffen, statt sie abzustellen. Das ist eine ewige Debatte hier im Haus; es passiert nichts. Solange Sie Panzer und Maschinenpistolen exportieren und eine entsprechende Politik betreiben – davon können wir immer wieder in den Zeitungen lesen -, haben Sie kein Recht, Flüchtlinge zu Kriminellen zu erklären. Es ist wirklich ein Skandal, dass das hier überhaupt versucht wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Ganz nebenbei: Deutschland ist bei weitem nicht das Land, das am meisten Flüchtlinge aufnimmt. In Deutschland kommen auf 100 000 Einwohner 65 Flüchtlinge. In Schweden sind es schon 315 Flüchtlinge; in Malta, Zypern und Luxemburg sind es schon 450. Auch Italien und Griechenland nehmen, bezogen auf die Bevölkerung, mehr Flüchtlinge auf als Deutschland. Das heißt, wer behauptet, das Boot sei voll, redet meines Erachtens Unsinn.
(Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Wer behauptet das denn? Das ist doch veraltet!)
Wir werden vielmehr in die Pflicht genommen werden, in Europa solidarische Hilfe zu organisieren, eine vernünftige Umverteilungspolitik zu machen, was die Flüchtlingsprobleme angeht, und vor allen Dingen die Ursachen zu bekämpfen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich komme zur aktuellen Debatte zum Asylmissbrauch – hierzu sind schon einige Punkte genannt worden -: Das Problem sind nicht die Asylbewerber, wie bestimmte Politiker behaupten, um damit ganz gezielt Ängste zu schüren und bestimmte Vorurteile zu bestätigen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz sagte Bundesinnenminister Friedrich:
Das wird dazu führen, dass die Asylbewerber-Zahlen noch weiter steigen,
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Da hat er recht gehabt!)
denn es wird für Wirtschaftsflüchtlinge noch attraktiver zu uns zu kommen,
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Da hat er auch recht!)
und mit Bargeld wieder abzureisen.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Da hat er auch recht! Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Er hat nicht recht!)
Ihr Innenminister Schünemann aus Niedersachsen legte noch eins drauf:
Das ist klarer Asylmissbrauch. Ganze Dörfer kommen …
Ich darf Ihnen etwas verraten, was Ihnen bestimmt nicht gut gefallen wird: Mit diesen Zitaten Sie sehen es hier auf diesem Blatt Papier warb die NPD für den 9. November zu einem Fackelmarsch gegen Asylmissbrauch und nutzte Ihre Stellungnahmen,
(Zuruf von der LINKEN: Pfui!)
um das rechte Potenzial zu mobilisieren. Ich kann dazu nur sagen: Kommen Sie zu einer sachlichen Debatte zurück, und hören Sie auf mit dieser puren Stimmungsmache, die Sie seit Wochen betreiben. Sie liefern damit den Neofaschisten die Munition für rassistische Hetze.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Und das vom Verfassungsminister! Unglaublich! Reinhard Grindel (CDU/CSU): Das ist doch unglaublich! Eine Frechheit!)
Was sich hier anbahnt – darauf hatten schon einige hingewiesen -, ist im Grunde genommen eine Neuauflage des Szenarios von 1992. Es werden Ängste geschürt. Es wird mit Unterstellungen gearbeitet. Es wird gehetzt. Damals brannten am Ende die Wohnheime für Asylbewerber. Meine Damen und Herren, wir müssen alles tun, damit das nicht wieder geschieht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Linke sagt auch deswegen ganz klar, dass das Asylrecht reformiert werden muss.
Gerade zu dem Beispiel Roma kann ich jetzt keine weiteren Ausführungen machen Frau Beck hat es aber schon gesagt , aber so viel: Sie sind nicht einfach Wirtschaftsflüchtlinge, wie Sie das hier darstellen wollen. Die EU, die UN, der Europarat sprechen von massiver Diskriminierung.
(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Das ist Quatsch!)
Ich will Sie daran erinnern, dass die Flüchtlinge, die zurzeit aus dem Balkan kommen, zur Hälfte Kinder sind Kinder und ganze Familien!
Zum Schluss möchte ich sagen, dass die Linke mit den vorliegenden Anträgen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zur Residenzpflicht die Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezogen hat. Beides gehört sofort abgeschafft!
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wollen die Würde der Asylsuchenden genauso schützen, wie wir die Würde aller Menschen in der Bundesrepublik schützen wollen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Ja.
Eine wichtige Besonderheit in unseren Anträgen ist ansonsten werden wir allen Anträgen zustimmen : Wir wollen auf die Wohnortzuweisung verzichten. Unserer Meinung nach ist es wichtig, für Flüchtlinge Wohnungen und keine Lager zu schaffen. Es gibt ja das Meldegesetz; sie sind erreichbar.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin!
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Es ist nicht nötig, dass wir diese Einschränkung haben.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

1711589_Residenzpflicht_II.pdf

1704424_AsylbewLG_abschaffen.pdf