Es klang wie eine Neuauflage der Hetze von Anfang der 1990er Jahre: Als im Herbst die Zahl der Asylanträge von Staatsangehörigen Serbiens und Mazedoniens zunahm, reagierte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) mit lautem Räsonieren über angeblichen, massenhaften »Asylmißbrauch«. Den Bürgern beider Balkanländer drohte er das Ende des visafreien Reisens in die EU an – und forderte deren Regierungen auf, bestehende »Anreize«, nach Deutschland zu kommen, zu beseitigen.
Doch genau die Politik, Flüchtlinge so schlecht zu behandeln, daß so viele wie möglich »freiwillig« wieder verschwinden, ist im Juli durch das Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig gebrandmarkt worden. Es urteilte, die Regelsätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz seien »evident unzureichend«. Zum Zeitpunkt des Karlsruher Beschlusses lagen sie um fast 40 Prozent unter denen der regulären Sozialhilfe. Die Richter forderten die Bundesregierung auf, das Asylbewerberleistungsgesetz unverzüglich entsprechend zu ändern. Zugleich erließen sie eine Übergangsregelung, damit die Betroffenen nicht Jahre auf die Anhebung der Sätze warten müssen. Inzwischen gibt es offenbar einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der aber nur der Süddeutschen Zeitung vorliegt (siehe jW vom 1.12.). Demnach sollen die Transferzahlungen zwar deutlich auf 336 Euro für Erwachsene und 202 Euro für Kinder angehoben, die Erhöhungen aber nur als Sachleistung gewährt werden. Abgesehen davon lägen die Hilfen damit noch immer deutlich unter den Hartz-IV-Sätzen von 374 bzw. 219 Euro monatlich. Außerdem soll Antragstellern aus angeblich sicheren Herkunftsländern wie eben Serbien und Mazedonien von vornherein lediglich ein abgesenkter Satz gewährt werden.
Gerade im Karlsruher Urteil sahen Minister Friedrich und seine Länderkollegen einen wesentlichen Grund für den Anstieg der Asylbewerberzahlen ab August. Tatsächlich wird damit gerechnet, daß 2012 mit etwa 10000 doppelt so viele serbische Staatsangehörige einen Antrag gestellt haben werden wie 2011. Insgesamt ist in diesem Jahr laut Regierung mit 70000 Asylanträgen zu rechnen, das sind 20000 mehr als im vergangenen Jahr. Bezogen auf die Bevölkerungszahl liegt die Bundesrepublik damit aber immer noch gerade mal im Mittelfeld der EU-Staaten. Komplett geleugnet wird, daß Menschen aus dem westlichen Balkan mit dem Wintereinbruch vielfach der Kältetod in ihren von jeglicher Infrastruktur abgeschnittenen Siedlungen droht und daß sie massiver Diskriminierung in allen Lebensbereichen ausgesetzt sind, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention als anerkannter Fluchtgrund gilt. Dennoch wurden auch in den letzten Wochen Hunderte Roma abgeschoben.
Auf europäischer Ebene stand die Verabschiedung verschiedener Richtlinien an, die das »Gemeinsame Europäische Asylsystem« (GEAS) vollenden sollten. Eine Einigung darüber scheiterte aber daran, daß die Innenminister an ihren restriktiven nationalen Regelungen festhielten. Und so sind im aktuellen Entwurf der »Aufnahmerichtlinie« sechs neue Gründe formuliert, die eine Inhaftierung Asylsuchender möglich machen. Die Bundesregierung beharrte auf dem Asylschnellverfahren an Flughäfen. Die Richtlinien werden nun voraussichtlich im Frühjahr verabschiedet.
Bereits seine Arbeit aufgenommen hat hingegen das Europäische Unterstützungsbüro in Asylfragen (EASO). Doch ob es seinen Auftrag erfüllen kann, zur Harmonisierung der Praxis in der EU beizutragen, bleibt abzuwarten. In Griechenland ist es zunächst damit beschäftigt, überhaupt ein funktionierendes Asylsystem aufzubauen. Derweil gibt es selbst bei Bewerbern aus Syrien in den EU-Staaten vollkommen unterschiedliche Anerkennungsquoten. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström befand zu Recht, es herrsche eine »grausame Lotterie für die Flüchtlinge« – meint aber, dieser Zustand werde mit den neuen Richtlinien geändert.
Zugleich nimmt die sogenannte EU-Grenzschutzagentur FRONTEX immer mehr Fahrt auf. Sie hat gemeinsam mit der EU-Kommission das Meeresüberwachungssystem EUROSUR auf den Weg gebracht. Trotz des Streits über die Finanzierung ist klar: Hier entsteht eine der größten Organisationen zur Echtzeitüberwachung der Meeresgrenzen. Schon bevor Flüchtlinge in Nordafrika mit ihren Booten ablegen, sollen sie aufgespürt und zurückgehalten werden. Die EU will so künftig häßliche Meldungen über Tote im Mittelmeer vermeiden.
In Deutschland gab es in diesem Jahr auch ein erfreuliches Novum: eine medial erfolgreiche Selbstorganisation von Flüchtlingen, beginnend mit einem Hungerstreik in Würzburg im Oktober. Es folgten ein Marsch nach Berlin und zahlreiche Aktionen in der Hauptstadt. Die Kernforderungen der Aktivisten sind: Abschaffung der Residenzpflicht, Aufhebung der Arbeitsverbote und des Asylbewerberleistungsgesetzes, Ende aller Abschiebungen. Sogar der Innenausschuß des Bundestages kam nicht umhin, das Gespräch mit einer Delegation der Aktivisten zu suchen – wenngleich die Unterredung ergebnislos verlief. Doch Protest macht Hoffnung, daß die Hetze der Regierung auch 2013 nicht unwidersprochen bleiben wird.