Der heutige Tag des Flüchtlings ist der Höhepunkt der Interkulturellen Woche, die seit 1986 von Gewerkschaften, Kirchen und zahlreichen Vereinen und Verbänden organisiert wird. Sie steht dieses Jahr unter dem Motto »Wir wählen die Freiheit«. Bei zahlreichen Aktionen, Ausstellungen, Informationsveranstaltungen und Theaterabenden geht es um den Einsatz für Flüchtlinge in Deutschland und gegen den alltäglichen Rassismus. Dringenden Bedarf an einer Neuausrichtung der Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik meldeten anläßlich des Flüchtlingstages unter anderem Pro Asyl und die deutsche Sektion von Amnesty International an. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am Mittwoch in Berlin (jW berichtete) forderten sie von der Bundesregierung eine »würdigere Flüchtlingspolitik«.
Unabhängig von den Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen, Kirchen und Gewerkschaften zur Interkulturellen Woche weitet sich die selbstorganisierte Bewegung der Geflüchteten in der Bundesrepublik aus. Ob in Eisenhüttenstadt, Bitterfeld, Stuttgart, München, Berlin, Hamburg: Die Flüchtlinge verlassen sich nicht mehr allein auf wohlmeinende Stellvertreter, sondern vertreten selbstbewußt ihre eigenen Interessen. Zuletzt haben am Montag Asylsuchende aus Nigeria, die in einem Sammellager in Schwäbisch-Gmünd untergebracht sind, ein Protestcamp vor der baden-württembergischen Landesaufnahmestelle in Karlsruhe errichtet. Sie fordern, daß endlich über ihre Asylanträge entschieden wird – einige von ihnen warten seit vier Jahren auf eine Entscheidung. In der baden-württembergischen Hauptstadt Stuttgart gab es bereits Ende August Proteste von Flüchtlingen, die ein Protestcamp vor dem Innenministerium errichtet hatten und zeitweise in einen Hungerstreik getreten waren.
Auch in Bayern werden die Proteste der Flüchtlinge fortgesetzt, die nach einem neuerlichen Protestmarsch von Würzburg und Bayreuth am 3. September in München eingetroffen waren. Der Protestmarsch war von zahlreichen Schikanen der Polizei geprägt, die immer wieder Flüchtlinge wegen Verstößen gegen ihre »Residenzpflicht« in Gewahrsam nahmen und in ihre Landkreise zurückbrachten (jW berichtete). In der bayrischen Landeshauptstadt besetzten die Flüchtlinge das Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes, zogen am 15. September in das Eine-Welt-Haus um und führten dort unter anderem Gespräche mit Abgeordneten des Landtags. Sie werden sich am 30. September mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, treffen. Die Flüchtlinge haben angekündigt, den Präsidenten zur Anerkennung ihrer Asylanträge aufzufordern.
In Hamburg gehen unterdessen die Proteste der 300 Flüchtlinge aus mehreren afrikanischen Staaten weiter, die 2010 aus Libyen nach Italien fliehen mußten und nun seit Beginn des Jahres in Hamburg in Kirchen oder auf der Straße leben. Der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat vergangene Woche zum wiederholten Mal die Forderung nach einem humanitären Bleiberecht abgelehnt. Wie es mit diesen Menschen weitergehen soll, ist derzeit vollkommen unklar. Hier wie an vielen anderen Orten des Protests bestehen die Aktivisten darauf, als Gruppe behandelt zu werden, die gemeinsam für ihre Rechte kämpft.
Abzuwarten bleibt, wie es in Berlin nach der Bundestagswahl mit dem Protestcamp der Flüchtlinge auf dem Oranienplatz weitergehen wird. Mehrfach hatte Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) angedroht, das seit fast einem Jahr existierende Camp auch über den Kopf von Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) hinweg räumen zu lassen. Anfang Juli hatte er eine Entscheidung bis Ende September angekündigt. Die Auseinandersetzung zwischen den Flüchtlingen und ihren Unterstützern einerseits und Polizei und Ausländerbehörden andererseits könnte hier also bald in ihre nächste Runde gehen.