Verantwortlich für den Skandal ist in erster Linie der Internationale Suchdienst (ISD) des Roten Kreuzes. Dieser war maßgeblich für die Beschaffung der »Nachweise« verantwortlich, mit denen die Naziopfer beweisen mußten, tatsächlich in KZ- oder Arbeitslagern eingesperrt gewesen zu sein. Der ISD wurde zum Nadelöhr für zahlreiche Antragsteller. Viele von ihnen stellten ihren Entschädigungsantrag direkt dort – was formal falsch war, vom Kuratorium der Entschädigungsstiftung aber als »fristwahrende Antragstellung« gewertet wurde.
Letzter Termin, einen Antrag zu stellen, war der 31. Dezember 2001. Sehr schnell erwies sich, daß der ISD mit der Weiterleitung der bei ihm eingereichten Anträge überfordert war, obwohl er im Jahr 2003 für den Arbeitsaufwand 221000 Euro erhielt. Immer wieder nannte er neue Termine, immer wieder verschob er diese. Im November 2004 teilte er mit, er habe eine Million Anfragen aus den vorhergehenden Jahren noch nicht gesichtet und »vermute« in diesen rund 5000 Anträge auf Entschädigung. Die Stiftung setzte schließlich eine letzte Frist bis zum 30.September 2005. Auch der damalige Bundesaußenminister Joseph Fischer (Grüne) versuchte, Druck auf den ISD auszuüben– erfolglos.
Seither übermittelte der ISD mehrere tausend weiterer Schriftstücke, die aber von den meisten Partnerorganisationen der Stiftung nicht mehr bearbeitet werden. So hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) allein im März 2006 noch über 1 500 Briefe erhalten – ohne sie zu bearbeiten. Die Antragsteller wissen noch nicht einmal, daß ihre Briefe nun zwar endlich eingetroffen sind, aber »wegen Fristversäumnis« für gegenstandslos erklärt werden.
Hinzu kommt, daß das Stiftungsgesetz ausdrücklich vorsieht, daß seit Oktober dieses Jahres keine Anträge mehr zu bearbeiten sind. Diese Regelung sollte ursprünglich sicherstellen, daß die Gelder zügig ausgezahlt und nicht übertrieben große Rücklagen angelegt werden. Nun droht sie aber zum Bumerang für Zwangsarbeiter zu werden: Wessen Antrag vom ISD verschlampt worden ist, für den ist nun jede Frist verstrichen und jeder Rechtsanspruch erloschen.
Wie vielen ehemaligen Zwangsarbeitern deswegen die Entschädigung verweigert wird, läßt sich kaum exakt bestimmen – die Schreiben werden ja nicht mehr geprüft. Bei den meisten Schriftstücken handelt es sich nach Einschätzung des ISD nicht um neue Anträge, sondern um Nachfragen für Archivrecherchen oder Anträge auf Höherstufung der Entschädigung. Hinzu kommen weitere Hunderte, wenn nicht Tausende, deren Beschwerdeverfahren beim ISD versandet sind.
Das Kuratorium wird am heutigen Mittwoch das Problem besprechen, die Stiftung hat aber nur wenig juristischen Spielraum. Die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf, auf eine Anfrage aus der Linksfraktion hin verwies sie achselzuckend auf die Rechtslage. Politiker der Linksfraktion fordern, eine neue gesetzliche Regelung zu finden.
Protestieren wird morgen die »Initiative Entschädigung für alle NS-Zwangsarbeiter«. Sie geht davon aus, daß die Zahl der »vergessenen« NS-Opfer mehrere hundert beträgt, und vermutet, daß beim ISD immer noch ungeöffnete Postsäcke herumliegen könnten. Mit dabei wird morgen Frau S. sein. Die heute 80jährige hatte im Januar 2000 einen Entschädigungsantrag beim ISD eingereicht. Im Februar 2005, also nach mehr als fünf Jahren, wurde ihr mitgeteilt, ihr Brief sei jetzt an die IOM weitergereicht worden. Von dort hat sie bis heute keinen Bescheid, und mittlerweile hat sie auch keinen Rechtsanspruch mehr.