Im »Quasi-Verteidigungsfall« gelten nach Schäubles Ansicht die Regeln des sogenannten Kriegsvölkerrechts. Demnach seien nur Angriffe verboten, »die in keinem Verhältnis zu erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteilen stehen«. Der Innenminister sieht das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt, wenn zur Vermeidung einer noch größeren Katastrophe der Abschuß eines entführten Zivilflugzeugs, also die Tötung von unschuldigen Flugpassagieren, gesetzlich erlaubt wird.
Genau das hatten die Verfassungsrichter untersagt. Mit Blick auf die Garantie der Menschenwürde sei es »schlechterdings unvorstellbar, auf Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten«, heißt es im Urteil vom Februar 2006. Dem will Schäuble, der die Bundeswehr offenbar um jeden Preis im Inland von der Kette lassen möchte, mit einer Neudefinition von »Krieg« begegnen.
Allerdings bläst ihm der Wind ins Gesicht. SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz sagte der Nachrichtenagentur AFP, dieses Vorhaben habe keine Chance auf Realisierung. Durch den Vorschlag für einen »Quasi-Verteidigungsfall« würden die Grenzen von Kriegs- und Friedensrecht verwischt
Der zum Teil heftige Widerspruch von der Linkspartei.PDS, aber auch von Grünen und FDP, ist gut begründet. Läuft doch Schäubles Vorhaben darauf hinaus, eine rechtsfreie Grauzone zu etablieren. Setzt sich der Innenminister mit seinen Plänen durch, droht in der Tat der permanente Ausnahmezustand. Den Verdacht auf einen Terroranschlag will Schäuble zur Grundlage nehmen, im Inland das Kriegsrecht anzuwenden.
Schäubles Vorstoß zeuge »von hartnäckiger Ignoranz gegenüber dem höchsten deutschen Gericht«, so Wolfgang Neskovic, rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion und ehemaliger Bundesrichter. Laut Verfassungsgerichtsurteil sei es »schlechterdings undenkbar« , Leben gegen Leben abzuwägen. Daran zu rütteln, verstoße gegen die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 des Grundgesetzes, wonach bestimmte Grundprinzipien der Verfassung auch durch eine Grundgesetzänderung nicht eingeschränkt werden dürfen.
Grünen-Chef Reinhard Bütikofer sagte dem Nachrichtensender n-tv, Schäuble wolle eine »Ermächtigungsgrundlage«, damit die Exekutive jederzeit im Inneren Kriegsrecht anwenden könne. »Damit wird die Substanz einer freiheitlich republikanischen Ordnung meines Erachtens sehr schwerwiegend verletzt.« FDP-Fraktionsvize Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warf Schäuble im Bayerischen Rundfunk vor, er wolle die Grenze zwischen Kriminalitätsbekämpfung und Verteidigungsfall verwischen. Die FDP lehne die von »Schäuble verfolgte Militarisierung der Innenpolitik entschieden ab«, erklärte FDP-Innenexpertin Gisela Piltz.
Zuerst erschienen in: junge Welt vom 03.01.2007