Aus: junge Welt vom 1. Oktober 2016
Bundesregierung weiß nichts von Akten zu Terrorverdächtigen aus der Türkei
Die Krux an der Sache: Erdogan hat der Bundesregierung keine 4.000 Akten übergeben. Der »Sachverhalt trifft nicht zu«, antwortete die Bundesregierung diese Woche auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion zu »Fahndungs- und Auslieferungsersuchen der Türkei«. Nach Auffassung der Bundesregierung handele es sich bei den von Erdogan genannten Akten nicht um Dokumente, die Deutschland aus der Türkei erhalten hat. Vielmehr habe sich Erdogan auf die etwa 4.500 in Deutschland durchgeführten oder anhängigen polizeilichen Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Aktivitäten der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK bezogen. »Diese Auffassung ist zwischenzeitlich zwischen der Bundesregierung und Vertretern der Türkei konsentiert worden«, so die Bundesregierung. Im Klartext: Erdogan hat den Mund zu voll genommen, doch Diplomaten beider Länder haben sich nun auf eine Deutung geeinigt, durch die sich der Möchtegernsultan vom Bosporus nicht zu sehr blamiert.
Nach Ansicht der türkischen Regierung sind der im US-Exil lebende Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger die Drahtzieher des Putschversuches vom 15. Juli 2016. Zehntausende mutmaßliche Gülen-Anhänger wurden seitdem vom Dienst in der türkischen Staatsbürokratie suspendiert oder in Untersuchungshaft genommen. Regierungsnahe türkische Medien berichteten zudem, dass Deutschland das zentrale Fluchtland von putschverdächtigen Gülen-Anhängern sei. Der naheliegende Schluss, dass die türkische Regierung die ins Ausland geflohenen mutmaßlichen Putschisten nun schnellstmöglich in ihre Gewalt bekommen will, täuscht indessen. »Nach dem Putschversuch sind weder Fahndungs- noch Auslieferungsersuchen zu diesem Tatvorwurf eingegangen«, stellte die Bundesregierung nun klar. Offenbar ist es Erdogan wichtiger, mit der Gülen-Bewegung ein probates Feindbild zur Rechtfertigung des Ausnahmezustandes zu haben. Denn Beweise für die Rädelsführerschaft des Imams beim Putschversuch hat die türkische Regierung bislang nicht vorgelegt.
Auch vor dem Putschversuch seien lediglich zwei türkische Fahndungsgesuche an deutsche Behörden übermittelt worden, die ausschließlich mit der Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit zur in der Türkei als »Fethullah-Terrororganisation« (FETÖ) verfolgten Gülen-Bewegung begründet wurden, erklärte die Bundesregierung nun. Zudem gab es zwei Auslieferungsanträge gegen Personen wegen sonstiger Straftaten, bei denen es die Gesamtumstände nach Ansicht der Bundesregierung nahelegen, dass sie der Gülen-Bewegung angehören.
Im Jahr 2015 wurden seitens der türkischen Behörden über Interpol Fahndungsgesuche gegen sechs Personen auf Grundlage diverser Straftaten übermittelt, bei denen es sich nach Ansicht der Bundesregierung ebenfalls um Gülen-Anhänger handelt.
Mitte August hatte der türkische Europaminister Ömer Celik vollmundig eine Ausweisung von in Deutschland tätigen Imamen der Gülen-Bewegung gefordert. Allzu ernst scheint es der türkischen Regierung mit dieser Forderung nicht zu sein. So sind der Bundesregierung keine offiziellen Ausweisungsbegehren von seiten der Türkei gegen Gülen-Imame bekannt. In mindestens einem Fall ist jedoch nach Informationen von junge Welt ein bei der Islamvereinigung DITIB angestellter Imam in Deutschland abgetaucht, als er nach dem Putschversuch von der türkischen Religionsbehörde Diyanet in die Türkei zurückberufen wurde.