Nach der Bankenpleite zeichnet sich jetzt ein neues Schreckensszenario ab. Die UN-Welternährungsorganisation FAO (Food and Agriculture Organization) warnte jüngst vor einer dramatischen Verschärfung der Hungerkrise in den ärmeren Ländern. Proteste und Hungerunruhen erschütterten in den vergangenen Monaten bereits Haiti und Indonesien, aber auch zahlreiche afrikanische Staaten wie Madagaskar, Ägypten, Kamerun, die Elfenbeinküste, Mauretanien, Äthiopien, Burkina Faso, Senegal und Marokko. In vielen Regionen verschlechtert sich die Versorgungslage infolge explodierender Lebensmittelpreise immer weiter. Ende März 2008 waren Reis und Getreide laut FAO doppelt so teuer wie im März 2007.
Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, die Welthungerhilfe und die Organisation Foodwatch verurteilten vor allem die Verwendung von Nahrungsmitteln für die Herstellung von Biosprit sowie die Agrarsubventionen in den USA und der Europäischen Union. Die Welthungerhilfe beziffert die Zahl der unterernährten Menschen auf mehr als 850 Millionen. Ziegler kritisierte auch IWF-Auflagen an Entwicklungsländer, ihre Landwirtschaft auf den Export auszurichten, um Devisen für Zins- und Tilgungszahlungen zu erwirtschaften. Selbst die Weltbank warnte vor gewaltsamen Unruhen in zahlreichen Ländern. Grob geschätzt drohten laut Weltbank-Direktor Robert Zoellick weitere 100 Millionen Menschen ins »Elend« abzurutschen. Der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) Dominique Strauss-Kahn prognostizierte: »In einer Anzahl von Ländern, namentlich in Afrika, wird dies (das Anziehen der Inflation – d. Red.) zu wirtschaftlichen Turbulenzen führen, aber auch zu beträchtlichem individuellen Leid, weil es eine der Ernährungsgrundlagen destabilisieren wird.«
Eine Frage des Überlebens
Wenn die Industriestaaten ihre bisherige Politik weiter verfolgen, wird es zu neuen Migrationsbewegungen kommen, auch nach Europa. Die kapitalistische Globalisierung führt zu einer immer dramatischeren Verarmung beispielsweise der afrikanischen Staaten. Die reichen Staaten des Nordens entziehen der sogenannten Dritten Welt die Lebensgrundlage. Hochsubventionierte Lebensmittel aus der Europäischen Union (EU) werden in Afrika zu einem Drittel der Preise angeboten, die man für einheimische Produkte zahlen muß. Thilo Bode, Geschäftsführer der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch, forderte, die Industrienationen müßten endlich eingestehen, daß sie eine mörderische Handelspolitik betreiben. »Wir dürfen nicht mehr wie in der Vergangenheit unsere Nahrungsmittel auf die Märkte der Dritten Welt schmeißen und dort die Existenz von Kleinbauern vernichten.«
Wenn an Ort und Stelle Einkommensmöglichkeiten fehlen, ist es für die Familien eine Frage des Überlebens, daß mindestens ein Familienmitglied den Weg nach Europa sucht, um mit dem dort verdienten Geld seinen Angehörigen das Existenzminimum zu sichern. Die Bewohner des Armenviertels Thiaroye-sur-Mer, einem Vorort der senegalesischen Hauptstadt Dakar, schildern eindrucksvoll und mit berechtigtem Stolz, daß familiäre Solidarität eine alte afrikanische Tradition sei. Sie zeigen den Besuchern einfache, aber ansprechende Steinhäuser, die sich von den sonstigen schlichten Behausungen abheben und mit dem Geld erbaut wurden, das Migranten aus Europa nach Hause geschickt haben. Diese »zielgenaue Entwicklungshilfe« versickert nicht im Regierungsapparat, sondern kommt direkt bei den Familien an und nützt ganzen Stadtvierteln. Ein Senegalese, der seine Arbeit bei der Müllabfuhr in München verrichtet, ernährt mit seinem Monatseinkommen von 1 500 Euro zehn Personen zu Hause.
Legale Zuwanderung wäre also für viele Familien eine Lösung, wird aber von den Herrschenden der »Festung Europa« so gut wie nicht zugelassen. Es gibt zwar zwischen dem Senegal und Spanien sowie Frankreich Abkommen über Zeitarbeitsverträge, die aber nicht ausreichen. Zudem müssen afrikanische Staaten, wie beispielsweise Marokko, jedes Zugeständnis der Europäer mit der Bereitschaft zu Rückführungsabkommen erkaufen. Es gibt kein System legaler Zuwanderung, das von den in Armut lebenden Menschen in Westafrika als Lösungsansatz für ihre existentiellen Probleme gesehen wird.
Also legen Familien die letzten Groschen zusammen, damit einer der jüngeren Männer die lebensgefährliche Überfahrt über den Atlantik oder das Mittelmeer nach Europa auf sich nimmt. Dieser Transfer auf hochseeuntauglichen Fischerbooten ist äußerst riskant und endet allzu oft tödlich.
Türsteher Marokko
Die Europäische Union erwartet von afrikanischen Ländern wie Marokko und Senegal, daß sie sich an militärisch-polizeilichen Abwehrmaßnahmen gegen Migranten beteiligen. Spanien verlangt von Marokko, die nordafrikanische Küste in der Region Tanger hermetisch abzuriegeln, und hat dafür zehn Millionen Euro für technische Polizeiausrüstung zur Verfügung gestellt.
Vor Tanger am nordwestlichen Ende des afrikanischen Kontinents liegt die nur 14 Kilometer breite Meerenge von Gibraltar. Dies ist die kürzeste Entfernung zwischen Afrika und Europa. In einem Streifen von 150 Kilometern entlang der Küste hat Marokko im Abstand von nur einem Kilometer Grenzposten plaziert, die mit jeweils zehn Polizisten besetzt sind. Insgesamt beschäftigt Marokko 11000 Sicherheitskräfte für die Grenzüberwachung. Diese aufwendige Abriegelung verursacht hohe Personalkosten, die das Transitland Marokko allein tragen muß, obwohl Veranlasser und »Nutznießer« Spanien und die EU sind.
Die marokkanischen Behörden sprechen selbst von »drakonischen« Maßnahmen der Armee und Polizei; sie zielen darauf ab, Europa zu zeigen, »daß wir willens sind, irreguläre Migration zu bekämpfen«. Dazu gehören Kontrollflüge mit Hubschraubern ebenso wie die Einführung biometrischer Merkmale in den Reisepässen. Wer es dennoch nach Spanien schafft, muß mit schneller Abschiebung rechnen, da zwischen den beiden Staaten ein Rücknahmeabkommen besteht.
Früher waren die Grenzen in Afrika durchlässig. Diese freiheitliche Tradition wird zerstört, weil Staaten wie Marokko eine ähnliche Rolle übernehmen müssen wie neue EU-Mitgliedsstaaten bei der Sicherung der Schengen-Außengrenzen. Im Jahr 2000 ist das Assoziationsabkommen Marokkos mit der EU in Kraft getreten. Darüber hinaus strebt Marokko vertiefte Beziehungen zur EU an (»statut avancé«) und zeigt sich kooperationswillig. Doch die EU weist dem Land die Rolle eines Türstehers zu. Deshalb hat Marokko jetzt Visumspflicht für Reisende aus anderen afrikanischen Ländern eingeführt. Nicht nur der Übergang von Afrika nach Europa wird also abgewehrt, der Druck der EU führt auch zur Einschränkung der Reisefreiheit in Afrika selbst.
Die drastischen Maßnahmen zeigen punktuell Wirkung. Die Zahl der Flüchtlinge, die das spanische Festland erreichen, ist wegen der Abschottungsmaßnahmen, zu denen noch die Grenzzäune bei den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko kommen, innerhalb von zwei Jahren um 80 Prozent gesunken. Eine Überquerung des Mittelmeers ist dort für Flüchtlinge praktisch unmöglich geworden.
Todesopfer in Kauf genommen
Die »Schlepper« reagieren mit Ausweichbewegungen. Die Migration hat sich im Mittelmeerraum nach Tunesien und Libyen verlagert, von wo aus die Flüchtlinge nach Italien streben. In Westafrika wird von den Flüchtlingen jetzt der Weg über den Atlantischen Ozean zu den Kanarischen Inseln westlich des afrikanischen Festlandes gewählt, da diese politisch zu Spanien und damit zur EU gehören. Der Atlantik wird indes ebenfalls strikt überwacht. Die früher von Flüchtlingen benutzte Strecke vom Senegal zu den Kanaren war ohnehin schon gefährlich, denn sie beträgt 1424 Kilometer; die Fahrt dauerte etwa fünf Tage. Wegen der Überwachung durch die europäische »Grenzschutzagentur« Frontex, an deren Ausstattung und Finanzierung auch Deutschland maßgeblich beteiligt ist, starten die Flüchtlinge jetzt entweder vom nördlich des Senegal gelegenen Mauretanien oder von den südlicheren Ländern Guinea oder Guinea-Bissau. Im letzteren Fall sind die Fluchtwege länger und damit noch gefährlicher. Die Zahl der Todesopfer durch Ertrinken oder qualvolles Verdursten steigt an.
Militärisch-polizeiliche Maßnahmen führen nur zu Ausweichreaktionen und sind damit in keiner Weise eine Lösung der Probleme. Insbesondere viele afrikanische Regierungen wünschen sich mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa. Der Hauptlösungsansatz, wie er auch von Menschenrechtsorganisationen gefordert wird, müßte aber darin bestehen, genügend Arbeitsplätze in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu schaffen. Ein Fischer in Thiaroye in Senegal erklärte, ein neues Fischerboot koste umgerechnet nur 150 Euro; damit wäre vielen Menschen geholfen. Übereinstimmende Meinung in Westafrika ist daher, die EU solle ihr Geld lieber in Entwicklungsprojekte stecken als in Frontex-Hubschrauber und neue Schnellboote. Die Transitstaaten Westafrikas fühlen sich mißbraucht als »Gendarmen Europas«. Immer wieder stößt man in der Region auf diesen Satz – bei Politikern wie bei Menschenrechtsaktivisten.
Die Politik der EU setzt aber weiterhin vor allem auf Ausgrenzung. Den Beweis lieferte gerade wieder die deutsche Innenpolitik. Zunächst machte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) klar, daß er über eine Erweiterung von Entwicklungshilfe mit der zuständigen Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) nicht einmal zu verhandeln gedenke. Dann wurde im Zuge der »Libyen-Affäre« klar, daß sich die Bundesregierung nicht vor polizeilicher Zusammenarbeit mit einem Regime scheut, das man sonst in Worten verurteilt. Das Interesse des Westens an der Kooperation mit Libyen liegt eindeutig darin, diesen Staat in die Abschottungsmaschinerie gegenüber Armutsflüchtlingen einzubeziehen.
Armenhaus Senegal
In wirtschaftlicher Hinsicht hat die EU westafrikanischen Staaten wie dem Senegal weitgehend die Grundlagen entzogen. Senegal galt früher selbst als Einwanderungsland. Heute ist es eines der ärmsten Länder des Kontinents. Im internationalen Index der menschlichen Entwicklung HDI, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) jährlich herausgibt, liegt Senegal auf Platz 156 von 177 Staaten.
Durch das 2006 ausgelaufene Fischereiabkommen zwischen der EU und Senegal, das den europäischen Fangflotten eine industriell betriebene Überfischung gestattete, wurde der Kabeljaubestand vor Senegals Küste drastisch reduziert. Verhandlungen über ein neues, die Interessen des Landes berücksichtigendes Abkommen wurden bisher nicht aufgenommen. Im Fischfang gingen daher für viele Senegalesen die Arbeitsplätze verloren, ohne daß anderweitig neue hinzugekommen wären.
Gut die Hälfte der Bevölkerung Senegals ist unter 15 Jahren alt. Die Analphabetenquote liegt bei 60 Prozent. Derzeit bleiben 90 Prozent der Schulabgänger arbeitslos. Die Kluft zwischen der kleinen, meist in Frankreich gut ausgebildeten Elite und der übrigen Bevölkerung ist groß. Hier tickt eine soziale Zeitbombe.
Senegals Oppositionsparteien – darunter die Sozialisten und die Arbeiterpartei – halten die Politik des autokratisch regierenden Präsidenten Abdoulaye Wade für perspektivlos. Sie boykottierten die Parlamentswahlen im Juni 2007, weil sie keine Garantie für einen fairen Ablauf sahen. Stattdessen forderten sie die Bildung einer nationalen Plattform (»assises nationales«) unter Einschluß der Agrarverbände und Gewerkschaften. Präsident Wade ging darauf nicht ein.
Die Kritik der Opposition an seiner neoliberalen Politik ist offenkundig berechtigt. Sie richtet sich etwa dagegen, daß Prestigeprojekte wie der Autobahn- und Hotelbau für die Konferenz islamischer Staaten (OIC) am 13./14. März 2008 vorangetrieben wurden, während gleichzeitig die einheimische Landwirtschaft vernachlässigt wird. Es kommt daher zu einer Landflucht und Slumbildung in den Städten. In qualvoller Enge leben im Armenviertel Thiaroye-sur-Mer, einem Vorort der Hauptstadt Dakar, der traditionell vom Fischfang gelebt hat, 40000 Menschen auf sechs Quadratkilometern ohne irgendeine echte Zukunftsperspektive zusammen.
Viele Mütter dort sind verzweifelt, weil ihre Söhne, die in Richtung Europa aufgebrochen sind, als vermißt gelten. Die Frauen geben die Hoffnung nicht auf und klammern sich an jedes Gerücht, etwa daß in Algerien Flüchtlinge aus dem Senegal aufgetaucht sind – auch wenn alles dafür spricht, daß die Söhne die Überfahrt nicht überlebt haben. Andere junge Männer sind mit dem Leben davongekommen, wurden aber vor Europas Grenzen aufgegriffen. Die Frontex-Boote kontrollieren rechtswidrig den Atlantik bis zu 200 Seemeilen vor der Küste Senegals. Wenn sie eine »Piroge« (ein Fischerboot) antreffen, wird diese an Ort und Stelle versenkt; die Insassen werden, selbst wenn sie sich schon in internationalen Gewässern befunden haben, von Frontex oft gewaltsam in den Senegal zurückgebracht. Ihnen wird dadurch ihr Recht auf ein Asylverfahren verwehrt. Fast jeder, der versucht hat, »illegal« nach Europa zu kommen, würde es trotzdem noch einmal tun. »Es ist besser, das Leben für die eigene Familie zu riskieren, als hier den sozialen Tod zu sterben«, sagt nicht nur einer der Gescheiterten verbittert.
Mißachtung von Menschenrechten
Mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich existiert seit 25. Februar 2008 ein Abkommen über die »konzertierte Steuerung der Migrationsströme«. Damit gibt es Erleichterungen für die Erteilung von Visa zur zeitlich befristeten Aufnahme von Arbeit in bestimmten Berufen. Das vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy verfochtene Konzept einer »zirkulären Migration« ohne Chance auf dauerhaftes Bleiberecht wird von Menschenrechtsorganisationen und Politikern im Senegal kategorisch abgelehnt. Das Land bräuchte echte Möglichkeiten legaler Migration in die EU, wie sie Spanien vorübergehend geboten hat. Madrid vollzieht indes eine Kehrtwende bei der Einwanderungspolitik: Vor der Wahl Anfang März 2008 hatte Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero immer wieder verkündet, wie unentbehrlich die 4,5 Millionen Immigranten für sein Land seien. Diese brauchte man vor allem als billige Arbeitskräfte in der Bauwirtschaft. In dieser Branche ist aber eine Krise ausgebrochen, die 400000 Einwanderer arbeitslos gemacht hat. Jetzt sollen sie mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Heimatländer bewegt werden. »Wir fördern die freiwillige Rückkehr von Gastarbeitern«, sagte Zapatero am 8.April in seiner Regierungserklärung. Geplant sei die Auszahlung von Ansprüchen aus der Renten- und Arbeitslosenkasse.
Diese Praxis, Menschen nach dem Nützlichkeitsprinzip als ökonomische Verfügungsmasse zu behandeln, zieht sich wie ein roter Faden durch die EU-Migrationspolitik. Die Menschenrechte der Flüchtlinge bleiben auf der Strecke.
Organisationen wie Pro Asyl fordern seit langem: »Wer das Sterben vor den Toren Europas wirklich verhindern möchte, muß sich Gedanken darüber machen, wie Flüchtlinge und Migranten gefahrenfrei und legal auf das Territorium der EU kommen können.« Die Dramen, die sich an den Rändern Europas abspielen, zeigen, daß »die EU-Staaten bereit sind, elementare Menschenrechtsstandards aufzugeben«. Niemand kennt die Zahl der Todesopfer genau. Sogar nach eigenen Angaben der spanischen Behörden aus dem Jahr 2007 kamen bis dahin 6000 Flüchtlinge und Migranten allein auf dem Weg von Westafrika zu den Kanarischen Inseln ums Leben. Tatsächlich wird die Zahl weit höher liegen.
Um Aufklärung bemühen sich die betroffenen Staaten kaum. Als in Melilla und Ceuta an den spanisch-marokkanischen Grenzzäunen – deren Errichtung auch die Bundesregierung massiv gefordert hatte – im Jahre 2006 Flüchtlinge erschossen wurden, zeigten sich die Folgen der Abschottungspolitik besonders dramatisch. Diese Todesfälle sind bis heute nicht aufgeklärt. In Marokko erhält man nur widersprüchliche Auskünfte darüber, was denn heute mit denjenigen Personen geschieht, die aus anderen Teilen Afrikas kommen, aber den Grenzübertritt nach Europa nicht schaffen. Unbestritten wurden zwischen Weihnachten 2006 und Neujahr 2007 über 400 subsaharische Flüchtlinge und Migranten in Marokko festgenommen, in Busse gesteckt und an der algerischen Grenze in der Wüste ausgesetzt. Es kam zu schweren Mißhandlungen durch algerische und marokkanische Sicherheitskräfte. Frauen wurden vergewaltigt. Eine schwangere Frau verlor ihr Baby.
Erhöhter Kontrolldruck
Menschenrechtsorganisationen in Marokko machen aus ihrer Überzeugung keinen Hehl, daß es auch heute noch zu gewalttätigen Rückführungen kommt. Immerhin geben die Behörden in Marokko mittlerweile zu, daß angesichts des relativen Wirtschaftswachstums in der Region Tanger auch Nordafrika Ziel von Arbeitsuchenden aus der Westsahara ist, wenngleich für die meisten Migranten immer noch Europa als Dorado gilt. In Tanger wird für die astronomische Summe von 21 Milliarden Euro ein neues Hafengelände gebaut. Mit fünf neuen Luxushotels einschließlich 18-Loch-Golfplätzen will man mit Tunesien als auch mit der Urlaubsregion Agadir in Südmarokko stärker in einen Wettbewerb um Touristen treten. Dafür benötigt man viele Hilfskräfte, die man aber aus dem eigenen Land rekrutieren möchte – sozusagen eine Art Abschottung des Nordens gegenüber südlicheren Staaten innerhalb Afrikas.
Zwar propagiert König Mohammed VI. die Demokratisierung seines Landes. Gleichwohl bleibt Marokko eine absolute Monarchie, die bereit ist, bei den Abwehrmaßnahmen gegenüber Flüchtlingen europäischen Wünschen dienlich zu sein. Zuletzt machten die USA und die EU Druck, weil sich der nordafrikanische Raum angeblich zum Sammel- und Rückzugsgebiet von Terroristen entwickeln würde. Auch der internationale Drogenschmuggel dient als Rechtfertigung für eine weitere Erhöhung des Kontrolldrucks.
Seit 2006 spielt die europäische »Grenzschutzagentur« Frontex dabei eine entscheidende Rolle. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat daher in einer von Ruth Weinzierl verfaßten Abhandlung über »Menschenrechte an der EU-Außengrenze« im September 2007 »Empfehlungen an die Bundesregierung« formuliert, die auf eine Änderung der Regularien für Frontex hinauslaufen. Darin heißt es, die Geltung der Refoulement-Verbote1 aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den UN-Menschenrechtsabkommen müßten bei Abfang-, Kontroll- und Rettungsaktionen jenseits der Staatsgrenzen ausdrücklich anerkannt werden. Bisher beruft sich Frontex darauf, man habe nur die Verpflichtung, Menschen in Seenot aufzunehmen und zu einem sicheren Hafen zu bringen. Dies müsse nicht der nächstgelegene Hafen sein. Die Flüchtlinge aus Westafrika mit ihren kleinen Holzbooten seien stets in Seenot. Bei einem Frontex-Einsatz dürften sie daher ins Ausgangsland zurückgebracht werden. Es gebe keinen Anspruch auf eine Verbringung nach Europa und auf Einleitung eines Asylverfahrens. Dem widersprechen Menschenrechtsgruppen: Die Genfer Flüchtlingskonvention bindet die Beamten aus den EU-Staaten auch exterritorial. Greifen sie auf hoher See Flüchtlinge auf, müssen diese die Chance auf ein Verfahren haben. Aber das ist offensichtlich politisch nicht gewollt.
1 refoulement, frz. Zurückweisung, Verdrängung; hier: Verbot der Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimatstaaten, wenn diese dort konkret gefährdet sind – d. Red.